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19.11.2022 10:55

Gastronomicus – Alltagserlebnisse eines Gastronomen

Vier mal 12 Stunden sind ja auch eine 4- Tage-Woche – von Oliver Riek, Mitglied der NGG und der Tarifkommission
Ich habe einen kurzen Artikel über die Nachteile und die Auswirkungen der Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes geschrieben. Ich denke, der lässt sich auch auf andere Branchen übertragen aber für mich ist der Fall ziemlich klar, dass die Flexibilisierung das Problem des Personal- und Fachkräftemangels nochmal verschärft!

Am 08.11. hat „wallstreet-online.de“ einen Artikel veröffentlich in welchem der DEHOGA- Präsident Guido Zöllick seine Forderung nach Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes erneuerte. Er wolle das Deutschland EU- Recht umsetze, dass statt einer Wochen- eine Tageshöchstarbeitszeit festlege. Demnach wäre es erlaubt bis zu 48 Stunden die Woche und bis zu 12 Stunden am Tag zu arbeiten. Nach Zöllick sei das gegenwärtige Arbeitszeitgesetz nach 50 Jahren überholt und nicht mehr zeitgemäß. Gerade in der Gastronomie müsse man flexibler handeln können weil zum Beispiel Hochzeiten und andere Veranstaltungen länger gingen oder Gäste im Sommer gerne länger auf der Terrasse sitzen wollten. Zu dem betonte Zöllick das eine Flexibilisierung nicht nur im Interesse der Betriebe und Gäste wäre, sondern auch im Interesse der Beschäftigten läge und sich so an der Lebensrealität orientieren würde. Stimmt das wirklich? Wir sähe die Flexibilisierung der Arbeitszeiten im Arbeitsalltag aus?

Die Diskussion um die Flexibilisierung ist nicht neu und rückte in den Fokus der Öffentlichkeit durch den Koalitionsvertrag der Ampel in welchem sich die FDP flankiert von der Union dafür aussprechen, während die SPD es den Sozialpartnern überlassen will, dafür oder dagegen zu stimmen. Soviel zur Theorie. In der Praxis würde man mit einem flexibeln Arbeitszeitmodel die Büchse der Pandora öffnen! Ein Beispiel: Ein Angestellter fängt um 10 Uhr mit seiner Schicht an. Er muss die Vorbereitungen für das Mittagsangebot machen, was sowohl den Service als auch die Küche in Anspruch nimmt. Sein Feierabend wäre 22 Uhr und das ist fast überall die Zeit, wo Restaurants noch gut gefüllte Gasträume haben. Zudem muss nachbereitet werden: Das Restaurant neu eindecken, Besteck/ Gläser polieren, Reinigungsarbeiten, abrechnen, umziehen und dann nach Hause. Obwohl Betriebe durch die Flexibilisierung von zwei Schichten auf eine oder anderthalb reduzieren können, verdoppelt sich annähernd das Arbeitspensum. Wo also früher vier Kellner in zwei Schichten arbeiteten (früh/ spät) sind es nun zwei Kellner die fast die gesamte Öffnungszeit arbeiten. Auf Grund des eklatanten Personalmangels ist es schon seit Jahren nicht mehr möglich ohne die Überschreitung des derzeitigen Arbeitszeitgesetzes das Pensum zu erfüllen. Und da Überstunden nur selten erstattet werden, können die Preise für die Gäste gering gehalten werden. Wir sind gar so weit, dass in Stellenanzeigen mit der Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen geworben wird. Will heißen: Im Idealfall, jedoch seltenst wird das gesetzliche Minimum eingehalten.
Um zum einen Personalkosten zu sparen und zum anderen dem Personalmangel entgegenzuwirken, soll in Zukunft erlaubt werden, was bisher verboten ist und dies geht einzig zu Lasten der jetzt schon hoffnungslos überlasteten Beschäftigten. Meine Befürchtung: Die Masse der Betriebe, die durch Corona, Krieg und Inflation Geld verloren und sich verschuldet haben, wollen so schnell es geht wieder auf Volllast arbeiten ohne verkürzte Öffnungszeiten und ohne auf Gäste durch weniger Plätze verzichten zu müssen. Sie werden also -wie auch in der Vergangenheit- keine Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse, insbesondere jener von älteren Beschäftigten nehmen sondern sich mit dem Argument herausreden das alle Kollegen gleich behandelt werden und individuelle Lösungen ungerecht wären. Ich gehe also davon aus, dass auf Grund der finanziellen Einbußen zum einen und dem anhaltenden Personalmangel zum anderen, die Flexibilisierung voll ausnutzen werden.
Das Argument des DEHOGAs auch so die 4- Tage- Woche realisieren zu können ist Augenwischerei, denn dass hieße an vier Tagen 12 Stunden zu arbeiten. Wer aber arbeitet die anderen zwei Tage wenn dafür nicht genug Personal vorhanden ist? Für ein flexibles Wechselschichtsystem gibt es jetzt schon kaum bis gar kein Personal mehr wenn man zusätzlich noch zu berücksichtigen hat, dass Beschäftigte frei und Urlaub haben oder krank sind. Apropos krank: Die krankheitsbedingten Fehlstunden nehmen kontinuierlich zu. Alleine von 2008 bis 2018 wurden 107 Millionen krankheitsbedingter Fehlstunden registriert. Besonders betroffen sind die Alten- und Krankenpflegeberufe und Niedriglohnbranchen wie das Hotel- und Gaststättengewerbe, was dazu führt, dass das Bestandspersonal Ausfälle kompensieren und Mehrarbeit in Kauf nehmen muss. Zudem werden auf Grund der dünnen Personaldecke Dienstpläne sehr spontan ausgehängt und je nach Situation nach Belieben geändert, was Diensten auf Abruf führt, die eigentlich gar nicht erlaubt sind.
Ein weiterer Aspekt ist die Tatsache, dass seit der Einführung der Minijobs aktuell weniger als die Hälfte aller in der Gastonomie tätigen Personen noch in Vollzeit beschäftigt sind. Aber gerade die Prekärbeschäftigten wurden zu Beginn der Pandemie sofort entlassen. Mehr als 300.000 Personen in geringfügiger Beschäftigung haben in Folge der Corona Krise ihren Arbeitsplatz verloren. Die dadurch entstandene Lücke wird weder eine überhastete Zuwanderung noch die Flexibilität Arbeitszeit schließen.
Zu erwarten ist, dass sich mit dem kommenden Weihnachtsgeschäft die Situation nochmal verschärfen wird weil die Nachfrage rasant angestiegen ist. Das führt dazu, dass sich zwar das Geschäft langsam erholt, als Konsequenz dessen die Nachfrage nach Personal deutlich zunimmt.

Wer die Arbeitsbedingungen im Hotel- und Gaststättengewerbe vor Corona als normal noch zu akzeptieren bereit war, hat im Zuge der Kurzarbeit gemerkt, wie hoch der Wert von Planungssicherheit und Freizeit ist, was wiederum allmählich dazu führt, dass viele nicht mehr bereit sind, dass Arbeitspensum der Vor- Vorona- Zeit in Zukunft zu akzeptieren. Eine aktuelle Umfrage der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gastätten hat dies in ungeschminkter Art bestätigt und widerspricht so der Meinung des DEHOGA Präsidenten Zöllick, welcher bei der Flexibilisierung davon spricht, dass diese im Interesse der Beschäftigten sei. Ein weiteres Argument der Arbeitgeberseite ist, dass man mit der Flexibilisierung mehr Geld verdient. Das stimmt. Ist aber auch logisch wenn man statt maximal 45 Stunden nach seinem Wunsch 48 Stunden in der Woche arbeitet. Noch besser wäre es aber, wenn dazu noch Überstunden bezahlt würden. 2021 -also mitten in der Pandemie- wurden über 1,8 Milliarden Überstunden registriert. Wohl gemerkt REGISTRIERT , die Dunkelziffer an nicht dokumentierten Überstunden dürfte weitaus höher liegen. Brisant dabei ist, dass mehr als die Hälfte der fast 2 Milliarden Überstunden nicht bezahlt wurden. Nicht vergessen sollte man dabei, dass in vielen Arbeitsverträgen eine Klausel enthalten ist, in welcher eine bestimme Anzahl an Überstunden mit dem Bruttolohn abgegolten wird, was nichts anderes heißt, dass man für mehr Arbeit, weniger Geld bekommt. Zu Herrn Zöllck kann man folgendes sagen: Er ist Hoteldirektor des Hotels Neptun in Warnemünde, Mecklemburg- Vorpommern. Dieses Bundesland, welches eines der stärkten, touristischen Hotspots in Deutschland ist, hat mit Abstand den schlechtesten Tarifvertrag! Zudem musste das Hotel wegen duzender Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz empfindliche Strafen zahlen.
Ich empfinde es als zynisch den Beschäftigten die Flexibilisierung mit höheren Gehältern schmackhaft zu machen weil Herr Zöllick weiß, dass selbst der Tariflohn kaum zum überleben reicht und Menschen deswegen gezwungen sein werden, noch mehr zu arbeiten, statt dass ihre Fachkompetenz und Berufserfahrung sich in den Gehältern widerspiegelt.
Herr Zöllick sollte sich also die Umfrage der NGG genauer ansehen, denn an dieser kann er die Bedürfnisse der Beschäftigten ableiten. Ich kann aber vorweg greifen: Die Mehrheit der Beschäftigten WILL NICHT MEHR arbeiten. Wie wollen mehr Planungssicherheit, mehr Wertschätzung und mehr Rücksicht auf das Privatleben! Wer mehr arbeiten will möchte dies freilich nur, weil heutzutage eine Vollzeitstelle alleine nicht mehr für den Lebensunterhalt reicht. Also entweder länger arbeiten oder einen Nebenjob annehmen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Zahl der Mini- und Multijobber kontinuierlich ansteigt.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Die Flexibilisierung wird das Problem des Personal- und Fachkräftemangels nicht lösen, im Gegenteil! Sie wird es noch verschärfen denn alle empirischen Studien der letzten Jahre zeigen unmissverständlich, dass zu viel und zu stressige Arbeit, Arbeit auf Abruf und permanentes einspringen die Zahl der krankheitsbedingten Fehlstunden erhöht weil diese Art der maximalen Ausbeutung im Sinne der Gewinnmaximierung die Menschen krank macht. Nicht umsonst ist die Wissenschaft in den letzen Jahren verstärkt darauf gekommen, arbeitsbedingte Erkrankungen genauer zu untersuchen.

Wieso wehren sich die Beschäftigten nicht? 30% aller neu abgeschlossenen Arbeitsverträge sind sachgrundlos befristet. Wer also zu sehr auf sein Recht beharrt oder dem Unternehmen nicht produktiv genug ist, bekommt im besten Fall eine zweite, einjährige Verlängerung. Im schlimmsten Fall aber kann das Arbeitsverhältnis ohne Angabe von Gründen beendet werden. Der befristete Arbeitsvertrag hebelt also maximal zwei Jahre sämtliche Rechte für den Arbeitnehmer aus. Dabei sollte doch ein halbes Jahr Probezeit genug sein, um sicher zu gehen das man selbst zum Betrieb oder dieser zu einem passt. Erschwerend kommt hinzu, dass 80% aller gastronomischen Betriebe klein- bis mittelständisch sind, also weniger als 50, oft auch weniger als 10 Angestellte haben. Dies macht großflächig organisierte Arbeiterkämpfe schwierig. Zudem ist die Leidensbereitschaft großer Teile der Beschäftigten so groß, dass man bald schon von Masochismus sprechen kann. Dabei hat sich der Arbeitsmarkt von Arbeitgeber zum Arbeitnehmer hin verlagert und das spielt den Arbeitnehmern in die Karte. Genutzt wird dies jedoch nur in der Form die Branche komplett zu verlassen. Statt also offen zu streiken, haben bereits Hunderttausende die Gastronomie verlassen. Ein stiller und schleichender Protest, dessen Wirkung bei den Betrieben so recht nicht anzukommen scheint.

Aber der Mindestlohn ist doch gestiegen, lockt das niemanden in die Gastronomie? Die wachsende Inflation und die steigenden Kosten für Lebensmittel und Energie lassen die Mindestlohnerhöhung verpuffen. Schon bei der letzten Erhöhung reichten die 12 Euro nicht mehr aus um von seiner Vollzeitstelle leben zu können.

Aber die Tariflöhne sind doch auch um bis zu 30% gestiegen? Das stimmt, blöderweise steigt aber auch die Tarifflucht der Betriebe und das in rasendem Tempo. Waren 2018 noch 37% der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen beschäftigt, waren es 2019 nur noch 23%. Statt also den Angestellten Gehälter zu zahlen, die für sie angemessen sind, hat sich die Gastronomie bei den Durchschnittsgehältern auf Mindestlohnniveau eingependelt. Angestellte solle zwar maximal flexibel und belastbar sein, sollen alles geben und dabei ein hohes Maß an Motivation mitbringen, gleichzeitig aber am Ende des Monats feststellen, dass für sie im Gegenzug nicht viel übrig bleibt. Stattdessen wird mit einem guten Trinkgeld geworben, welches man aber auch nur dann bekommt, wenn man weder Urlaub hat, noch im frei oder krank ist. Überstunden werden ohnehin seltenst bezahlt.
Alles zusammengenommen haben die meisten Unternehmen ein engmaschiges und kreatives Betrigssystem aufgebaut und es sich jahrzehntelang sehr einfach gemacht. Sie konnten es sich leisten über die eigenen Öffnungszeiten hinaus wenige Gäste mit viel Personal bedienen weil sie eben keine Überstunden bezahlten. Das es bei Hochzeiten länger gehen kann ist normal und gilt für viele Veranstaltungen. Gehen wir auch hier in die Lebensrealität von der Herr Zöllick redet: So gut wie jeden Abend dürfen die letzten zwei Gäste sich an einem Glas Rotwein aufhalten, während das verbliebene Personal bereits mit den Aufräum- und Putzatbeiten fertig ist und darauf wartet das die Gäste endlich gehen. Hierbei gilt das vorgeschobene Prinzip, nach welchen man Gäste nicht rauswirft. Es sind also die Gäste, die bestimmen wann das Personal nach Hause gehen darf und das raubt Motivation und geht ebenso zu Lasten der Familie, der man sagen muss, dass man nie weiß wann man nach Hause kommt weil man ja nie weiß, wie lange die Gäste denn sitzen wollen. Dieses Open Ende Prinzip ist eines der Gründe für schwindende Ambitionen langfristig oder gar bis zur Rente in der Gastronomie zu arbeiten.
Wenn selbst das Hotel Neptun des Herrn Zöllick nicht ohne Arbeitszeitüberschreitungen das Pensum schafft, wie kann er dann davon reden, dass die Beschäftigten von der Flexibilisierung etwas positives hätten? Ist es nicht viel mehr so, dass der Arbeitsmarktwandel
In den Köpfen der alten, weißen Männer nicht angekommen ist? Und glauben Sie, dass sie weiterhin Beschäftigte finden, deren Hinhabe für den Job in Aufgabe des eigenen Lebens mündet?
Die empirischen Studien rund um den Arbeitsmarkt, Arbeitszeiten, Wertschätzung, Sinnhaftigkeit und Mitbestimmung konterkarieren das, was der DEHOGA uns weis machen will.
Durch die schlechten Perspektiven entscheiden sich immer weniger Menschen eine Ausbildung in der Gastronomie zu machen. 2011 wurden 77.097 Ausbildungsverträge abgeschlossen, 2011 waren es nur noch 43.279. Der demographische Wandel und die Überakademisierung sind eines der Gründe aber nicht der Hauptgrund! Die Gastronomie schafft es nicht anderen Branchen gegenüber Konkurrenzfähig zu sein, was sie im Rennen um die besten Azubis aber sein müsste!

Fazit:

Die Mehrheit der Beschäftigten klagt über zu viel Stress, zu wenig Planungssicherheit, zu wenig Wertschätzung und nicht zuletzt über zu wenig Geld. Niemand fällt mehr auf die Augenwischerei des DEHOGAs und der meisten Betriebe herein, der Ruf der Gastronomie wurde in den letzten 30 Jahren dermaßen ruiniert, dass die Personallücken nur noch durch Aushilfskräfte und ad hoch Zuwanderung gelöst werden sollen, was aber das strukturelle Problem nicht lösen wird. Es ist nicht klug zu legalisieren was vorher verbogen war um so ein Problem zu lösen. Nicht jedenfalls in diesem Falle! Wir wollen keine befristeten Arbeitsverträge, keine mit dem Bruttolohn inkludierten Überstunden, keine Arbeit auf Abruf, keine 12- Stunden- Schichten, keine 6- Tage- Woche und nicht noch mehr Stress.

Und vor allem wollen wir nicht, dass man uns für dumm verkauft!

Betriebe, die bereits die 4- Tage- Woche einführten, trotz einer 40- Stunden- Woche oder gar weniger berichten von produktiverer Arbeit, weniger streßbedingte Fälle, weniger Krankmeldungen und einer höheren Motivation, die sich auch auf die Gäste überträgt.
Davon will der an den Turbokapitalismus glaubende DEHOGA nichts wissen.

Es lohnt sich also das Thema nicht nur auf der Metaebene zu betrachten denn wie immer steckt der Teufel im Detail.

https://www.ngg.net/fileadmin/Hauptverwaltung/Materialien/PDF/20221018__Auswertung-Beschaeftigten-Umfrage-Gastgewerbe.pdf

https://www.wallstreet-online.de/nachricht/16171397-roundup-dehoga-dringt-lockerung-arbeitszeit-regelungen

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