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Schluss mit prekärer Arbeit

Arbeit fair teilen:
Kürzer arbeiten – besser leben

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Arbeitszeitverkürzung gehört wieder auf die Tagesordnung. Anders sind große gesellschaftliche Probleme wie Massen­arbeits­losig­keit und prekäre Beschäftigung nicht zu lösen. Wir brauchen einen neuen Arbeitszeitstandard von etwa 30 Stunden pro Woche. Diese „kurze Vollzeit“ ist nicht statisch, sondern nach persönlichen und beruflichen Situationen variierbar (Erziehungszeiten, Projektarbeit, Weiterbildung etc.), muss aber im Durchschnitt pro Jahr erreicht werden.

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Nach volkswirtschaftlichen Berechnungen ist mit dieser neuen Normalarbeitszeit Vollbeschäftigung wieder herstellbar. Diese „Vollbeschäftigung neuen Typs“ ist möglich und nötig, weil die Arbeitsproduktivität kontinuierlich steigt. Wir benötigen heute für die Herstellung notwendiger Güter nur noch etwa die Hälfte der Zeit wieim Jahr 1960; demgemäß ist das Arbeitsvolumen gesunken, während die Erwerbsbevölkerung gewachsen ist. Da 1960 regelmäßig 48 Stunden pro Woche gearbeitet wurde, könnte die Arbeitszeit heute sogar Richtung 20-Stunden-Woche tendieren.

Für Arbeitszeitverkürzung setzen sich Attac (AG ArbeitFairTeilen), die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, kirchliche ArbeitnehmerInnenorganisationen, Jugend-, Frauen- und Umweltgruppen sowie soziale Bewegungen ein. In einigen Teilen unseres Landes gibt es regionale Initiativen, die für dieses Ziel eintreten. Die jüngsten Gewerkschaftstage von ver.di und IG Metall im Herbst 2011 haben einen Neustart für die Debatte um Arbeitszeitverkürzung beschlossen.

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Dieser Neustart ist umfassend notwendig, um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschenzu verbessern, sie fair und sicher zu gestalten. Die Initiatorinnen und Initiatoren wissen um die großen Herausforderungen bei der Wiederbelebung und Durchsetzung der Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung. Gleichwohl:Wir wollen sie angehen – weil sie notwendig und vernünftig sind! Die Diskussion gehört in die Betriebe, die Gewerkschaftenund die Gesellschaft – weil wir unsere Zukunft lebenswert gestalten wollen.

Warum Arbeitszeitverkürzung dringend geboten ist

1.

Wir haben in Deutschland zurzeit eine Arbeitslosigkeit nicht von 3 Millionen, wie von der Bundesregierung behauptet, sondern von mindestens 5 bis 6 Millionen: Realistisch müssen Ein-Euro-JobberInnen, jugendliche und ältere Langzeitarbeitslose, Arbeitslose in Weiterbildung, kranke Arbeitslose, die „stille Reserve“ derer, die sich nicht mehr arbeitslos melden und die große Zahl unfreiwillig in Teilzeit und geringfügig Beschäftigter zur offiziellen Zahl dazugerechnetwerden. Arbeitszeitverkürzung ist für die allermeisten dieser Menschen die Voraussetzung dafür, (wieder) in (ausreichende) Erwerbsarbeit zu kommen. Insbesondere für junge Menschen schafft Arbeitszeitverkürzung die Voraussetzungdafür, nach der Ausbildung übernommen zu werden. Auch dem (angeblichen) Fachkräftemangel wäre durch Arbeitszeitverkürzung statt durch Arbeitszeitverlängerung, wie von interessierter Seite behauptet, beizukommen: insbesondere Frauen, die den Spagat zwischen beruflicher Tätigkeit und häuslicher Erziehungs- und Pflegearbeit besser bewältigen wollen, könnten mit kürzeren Arbeitszeiten entsprechend ihren vielfältigen Qualifikationen für die Betriebegewonnen werden, ältere Beschäftigte können mit kürzeren Arbeitszeiten länger und gesünder im Arbeitsleben bleiben.Eine kürzere Normalarbeitszeit würde außerdem den prekär Beschäftigten in Minijobs und unfreiwilliger Teilzeit ermöglichen, ihre Arbeitszeit zu erhöhen. Befristet und in Leiharbeit Beschäftigte könnten übernommen und gleichbezahltwerden.

2.

Zuviel Arbeit macht krank. Immer mehr Vollzeitbeschäftigte arbeiten über das verträgliche Maß hinaus – 50- bis 60-Stunden-Wochen und mehr sind in vielen Bereichen keine Ausnahme. Psychische Erkrankungen aufgrund vonArbeitsüberlastung sind inzwischen der häufigste Krankschreibungsgrund. Ab der 8. Arbeitsstunde nehmen berufsbedingte Erkrankungen und Arbeitsunfälle dramatisch zu. Erkrankungen wegen langer Arbeitszeiten stellen für die Krankenkassenund damit für die Versicherten eine enorme und wachsende finanzielle Belastung dar. Auch die beängstigende Zunahme des Burnout-Syndroms weist in diese Richtung. Aber nicht nur zu viel Arbeit macht krank. Keine Arbeit zu haben, birgt einnoch höheres Krankheitsrisiko. Arbeitslose sind drei- bis viermal so häufig psychisch krank wie Erwerbstätige.

3.

Arbeitzeitverkürzung brauchen wir für die Gleichstellung von Frauen und Männern und für die Familien. Nur eine „kurze Vollzeit“ für alle anstelle langer Vollzeit für Männer und kurzer Teilzeit für Frauen eröffnet beiden Geschlechtern die Chance auf existenzsichernde und gleichberechtigte Teilhabe und Entwicklungsmöglichkeiten in der Erwerbsarbeit.Frauen in Minijobs und unfreiwilliger Teilzeit können ihre Arbeitszeit aufstocken, Männer können ihre Erwerbsarbeit reduzieren und haben mehr Zeit für Haus- und Sorgearbeit. Die „kurze Vollzeit“ für alle ist Voraussetzung für die geschlechtergerechte Aufteilung jeglicher Arbeit: Erwerbsarbeit, Hausarbeit, Erziehungs- und Pflegearbeit. Nur mit solchen kurzen Arbeitszeiten haben wir außerdem genug Zeit, Familien zu gründen und uns um Kinder wie um pflegebedürftige Angehörige in angemessener und würdiger Form zu kümmern. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, nicht nur eine tarifliche oder gewerkschaftliche Forderung.

4.

Neben der Pflege von Beziehungen, von Kindern und Alten, brauchen wir kürzere Arbeitszeiten auch zur Pflege und Schonung der Natur. Arbeitszeitverkürzung ist die einzige Beschäftigung sichernde und Beschäftigungschaffende Alternative zu Wachstum, welches unser Klima, unsere Gesundheit und so unsere Lebensgrundlagen ruiniert.

5.

Nicht zuletzt brauchen wir Arbeitszeitverkürzung, um außer für Erwerbsarbeit auch genug Zeit für Sorgearbeit, gesellschaftliches und politisches Engagement und kreative Selbstentfaltung zu haben, wie es z. B. im Konzept der Vier-in-Einem-Perspektive entwickelt ist. Politische Beteiligung braucht Zeit, die Vollzeitbeschäftigte oft nicht haben, während Arbeitslose durch Verlust von Zeitstruktur, Isolation und Schamgefühle behindert werden, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren. Arbeitszeitverkürzung ist ein gutes Mittel gegen den oft beklagten Rückgang der politischen Beteiligung und Voraussetzung für die demokratische Kontrolle politischer Prozesse auf allen Ebenen.

6.

Die Massenarbeitslosigkeit hat zu einer strukturellen Schwächung von Gewerkschaften beigetragen mit dem Ergebnis gesunkener Löhne, verlängerter Arbeitszeiten und der Ausdehnung prekärer Beschäftigung. Die verbreiteteAngst vor Arbeitslosigkeit und vor dem Abrutschen in Hartz IV lähmt Beschäftigte und Gewerkschaften und erzwang Konzessionsbereitschaft für „Arbeit um jeden Preis“. Jede/r Arbeitslose weniger, die/der durch Arbeitszeitverkürzung wieder in Beschäftigung kommt, stärkt die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, welche wiederum höhere Löhne und mehr Kaufkraft ermöglicht.

Bedingungen erfolgreicher Arbeitszeitverkürzung

1.

Trotz all dieser guten Gründe für Arbeitszeitverkürzung stehen viele Beschäftigte der Arbeitszeitverkürzung skeptisch gegenüber. Sie haben in den letzten Jahren die Erfahrung von Reallohnverlusten gemacht und fürchten beiArbeitszeitverkürzung weitere Einkommenseinbußen. Teilzeitarbeit nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz, Arbeitszeitverkürzung (Kurzarbeit) in Krisenzeiten mit Lohnverlust bilden dafür den Erfahrungshintergrund. Reallohnverluste undder enorm gewachsene Niedriglohnsektor führen dazu, dass viele Beschäftigte nur mit Überstunden über die Runden kommen. Deshalb ist Arbeitszeitverkürzung nur mit Lohnausgleich machbar. Rein rechnerisch ist ein voller Lohnausgleichfür alle realisierbar und anzustreben, für die unteren Einkommensgruppen ist er unabdingbar. Gleichzeitig würden durch Arbeitszeitverkürzung und die dadurch möglichen Neueinstellungen die enormen Kosten der Arbeitslosigkeit drastisch gesenkt. Diese Kosten betragen jährlich ca. 58 Milliarden Euro nach Berechnungen des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Darin enthalten: Arbeitslosengeld I und II, Steuerausfälleund Ausfälle bei den Sozialbeiträgen. Noch nicht enthalten sind die Folgekosten von Arbeitslosigkeit durch Krankheit, soziale Isolation etc. Durch einen Bonus bei Steuern und/oder Sozialversicherungsbeiträgen für durchschnittlich kürzere Arbeitszeiten bzw. einen entsprechenden Malus bei längeren Arbeitszeiten/Überstunden könnte ein diese Folgekosten minimierender Anreiz für kürzere Arbeitszeiten gesetzt werden.

2.

Ein weiterer Grund für die Skepsis vieler Beschäftigter ist die Befürchtung von weiterer Arbeitsverdichtung in Folge von Arbeitszeitverkürzung. Viele haben die Erfahrung gemacht, dass Arbeitszeitverkürzung für sie bedeutet, die gleiche Arbeit in kürzerer Zeit zu erledigen bzw. Arbeit von Teilzeitbeschäftigten mitmachen zu müssen. Insbesondere im Angestelltenbereich bzw. Bereichen ohne definierte Personalbemessung (z. B. Forschung, Entwicklung, Sachbearbeitung)fand Arbeitszeitverkürzung häufig ohne Personalausgleich statt. Deswegen setzt Arbeitszeitverkürzung mit dem Effekt von mehr Beschäftigung Regelungen zum vollen Personalausgleich voraus. Das heißt: Neben Maschinenbesetzung,Stückzahlen, Akkordsätzen gehört auch die Definition realistischer Ziel- und Zeitvorgaben bei Projektarbeit und die Mitbestimmung von Betriebs- und Personalräten bei Personalbemessung und -ausgleich dazu. Nur so kann gewährleistet werden, dass Arbeitszeitverkürzung nicht zu Arbeitsverdichtung und Arbeitsüberlastung, sonderntatsächlich zu mehr Beschäftigung führt.

3.

Viele Menschen in hoch qualifizierten Berufen arbeiten in bestimmten Lebens- und Projektphasen gerne lange, weil sie ihr Projekt fertig kriegen und den Job gut machen wollen. Gleichzeitig herrscht in Deutschland in vielen Betrieben eine Langzeitarbeitskultur, die die Karriere an die Bereitschaft bindet, zeitlich unbegrenzt verfügbar zu sein. Längere Arbeitszeiten aufgrund konzentrierter Arbeit an definierten Projekten können zulässig sein, wenn der Zeitausgleich dafür verbindlich geregelt und garantiert ist – z. B. in Phasen von Freizeit nach einer Phase überlangerArbeit, z. B. in Weiterbildungsblöcken, Ausstieg auf Zeit mit garantierter Rückkehr oder Sabbatjahren.

4.

Trotz Skepsis: Der Wunsch der Mehrheit der Vollzeitbeschäftigten ist, kürzer zu arbeiten und während des gesamten Arbeitslebens ein gutes Leben führen zu können mit Zeit für sich, für die Familie, die Kinder, für Freunde und für kulturelle und politisch-gesellschaftliche Betätigung. Und wenn Teilzeitarbeit und Vollzeitarbeit durch die Anzahl der Beschäftigten geteilt wird, dann ist es tatsächlich so, dass die durchschnittliche Arbeitszeit fast genau 30 Stunden beträgt – nur eben sehr ungleich verteilt. Das kann und soll durch Arbeitszeitverkürzung zunächst in Richtung 30-Stunden-Woche verändert werden – mit vollem Lohn- und Personalausgleich. Der Reichtum unseres Landes, die steigende Produktivität und die Gewinne der Unternehmen erlauben einen solchen Schritt, das Elend der jahrelangen Massenarbeitslosigkeit und deren hohe gesellschaftliche Kosten erfordern diesen Weg ebenso wie die Grenzendes Wachstums.

5.

Das Ziel einer Vollbeschäftigung neuen Typs durch kurze Vollzeit von ca. 30 Stunden kann nur im Verbund mit anderen Ländern Europas verfolgt werden. Wie bei den Löhnen darf es ein Niederkonkurrieren durch längere Arbeitszeiten nicht geben. In vielen Ländern Europas haben wir eine weit höhere Arbeitslosigkeit als in Deutschland, in manchen über 20 %. Die Jugendarbeitslosigkeit mit bis zu 50 % in Spanien und Griechenland muss dringend bekämpft werden. Schon jetzt kommen viele Arbeitslose aus diesen Ländern nach Deutschland, und das Schrumpfen der Wirtschaft in den europäischen Abnehmerländern deutscher Exporte wird bald zu einem Schrumpfen der Exportindustrie in Deutschland und einem entsprechenden Wiederanstieg der Arbeitslosigkeit auch bei uns führen. Deswegen brauchenwir die 30-Stundenwoche für Europa!

Arbeitszeitverkürzung als Richtschnur

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Arbeitszeitverkürzung muss und kann wieder die Stoßrichtung der Arbeitszeitpolitik werden. Dazu müssen Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Kräfte sich verbünden. Nötig ist eine gesellschaftliche Bewegung, in deren Verlauf das Arbeitszeitgesetz verbessert wird, in der Tarifverträge in Richtung Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich vereinbart werden und eine erweiterte Mitbestimmung der Beschäftigten und ihrer Betriebsräte über denPersonalausgleich Leistungsverdichtung verhindert und Beschäftigung schafft. Dafür steht die Initiative „Arbeitszeitverkürzung jetzt!“ Wir laden alle ein und fordern auf zu Diskussionen darüber in Betrieben, Gewerkschaften und Hochschulen,in Kirchen und Krankenkassen, in Frauen-, Umwelt- und Wohlfahrtsverbänden, in den sozialen Bewegungen und Erwerbsloseninitiativen, in Parteien und Stiftungen.

Februar 2012, Berlin, Bremen, Gelsenkirchen, Hannover

Heinz-Josef Bontrup, Stephan Krull, Mohssen Massarrat, Margareta Steinrücke

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Weiterführende Daten, Fakten und Argumente zu Arbeitszeitverkürzung:

  • „ArbeitFairTeilen. Massenarbeitslosigkeit überwinden!“, Heinz-Josef Bontrup / Jörg Melz / Lars Niggemeyer, attac Basistext, VSA 2007
  • „Schritte aus der Krise. Arbeitszeitverkürzung, Mindestlohn, Grundeinkommen: Drei Projekte, die zusammengehören“, Stephan Krull / Mohssen Massarrat / Margareta Steinrücke, VSA 2009
  • „Die Vier-in-Einem-Perspektive – Politik von Frauen für eine neue Linke“, Frigga Haug, Argument-Verlag 2008
  • „Arbeiten wie noch nie? Unterwegs zur kollektiven Handlungsfähigkeit“, Sabine Gruber / Frigga Haug / Stephan Krull (Hrsg.) Argument-Verlag 2010
  • „Atmende Betriebe, atemlose Beschäftigte?“, Thomas Haipeter, Steffen Lehndorff, edition sigma 2004„Die Halbtagsgesellschaft“, Carsten Stahmer / A. Schaffer / S. Hartard (Hrsg.), Nomos 2006leben

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